Es wird wieder ein Situationsbericht. Oder nennen wir es Gegenwartsreflektion. Auf jeden Fall bin ich gespannt zu hören, ob es auch eure Wirklichkeit in diesen Wochen trifft.
Eigentlich wollte ich den Eintrag schon vor 10 Tagen geschrieben und veröffentlicht haben. Hätte ich besser mal, ich wollte nämlich das eingeschränkt-akzeptable new normal beschreiben – aber dann begann die Fallzahlenexplosion und schon ist es wieder anders.

Was mich am meisten erstaunt: wir reden immer noch so unglaublich viel über Corona! Dabei gibt es nicht viel Neues. Kein Impfstoff, Herdenimmunität ist vom Tisch, Kinder sind keine Superspreader und Maksen tragen wir auch schon seit einem halben Jahr. Im Sommer habe ich mich unglaublich gefreut, wenn bei einem Treffen nicht über das C-Thema gesprochen wurde. Mein Firefox-Newsstream ist ohne / mit wenig Corona ausgekommen – es gibt (gab?) endlich wieder andere Themen! Nichtsdestotrotz: Corona beherrscht unseren Alltag, unser Denken und unser Handeln. Die ganze Zeit. Seit gut acht Monaten. Für mich ist das mega anstrengend.
Fallzahlen, Statistiken und r-Werte (gibt’s den noch?) verfolge ich seit Monaten nicht aktiv. Das wichtigste bekommt man trotzdem mit (wir reden ja alle ständig drüber), weshalb auch ich den aktuellen / neuen Lieblingsindex kenne: Die 7-Tage-Inzidenz, also die Anzahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen. Steigt sie auf über 35 (neuerdings) oder 50 (bis vor einer Woche der Schwellenwert in Deutschland) wird die Stadt/der Kreis zum Risikogebiet – Stuttgart ist es seit 10 Tagen. Und dann haben die Ministerpräsidenten eine Corona-Ampel beschlossen und die ist rot und ich blicke langsam nicht mehr durch, was genau gilt.
Ich weiß: Wir tragen jetzt auch im Freien Maske (Pflicht in der Innenstadt) und haben Kontaktbeschränkungen. Freunde erzählen, dass wieder gehamstert wird. Was haben die Leute mit all den Konserven gemacht, die sie schon im Frühjahr nicht gebraucht haben? Ich bin erstaunt!
Mit dem erneuten Runterfahren fühlt sich der eingeschränkte Sommer 2020 in der Rückschau so frei an…
Als wir Risikogebiet geworden sind, hat mich das (mehr als erwartet) mitgenommen. RISIKOGEBIET! Das klingt nach Krisenregion. Das war immer woanders. Und jetzt bin ich mittendrin und … der Alltag fühlt sich kaum anders an. Aber Corona kommt näher – vier Begegnungen mit niedrigem Risiko in der Corona-Warn-App, Freunde die getestet werden (alle negativ), Bekanntenkinder in Quarantäne …
Ah, und dann hatten wir mit dem Beherbergungsverbot (Einwohner aus Risikogebieten dürfen in Hotels und Gaststätten im restlichen Deutschland nicht aufgenommen werden) ein paar Tage wirklich Gesprächsstoff. Dass das ein “unverhältnismäßiger Eingriff in die Freizügigkeit” ist, fanden glücklicherweise auch die Gerichte. Für mich hat mit dem Verbot die letzte stabil wirkende Säule gewackelt: Wenigstens Bewegungsfreiheit innerhalb Deutschlands?!
Bin am Tag nach der Beherbergungsverbotaufhebung direkt in den Schwarzwald gefahren. Über Nacht. Weil es ging. (Und das Indian-Summer-Wanderwetter im Westen am Besten vorhergesagt war.)
Das Zukunftsinstitut spricht vom Vor-Sicht-Modus. Finde ich schön treffend.
Der fehlende strahlende Spätsommer geht mir sowieso ab. Von 30 Grad innerhalb von wenigen Tagen auf stabil-regnerische 8-12 Grad hatte lineare Auswirkung auf meine Laune. (Jaja, ich weiß, die Wetterdarstellung ist ein klitzekleines bisschen subjektiv. Aber es hat wirklich vier Samstage in Folge geregnet). Das macht es zwar nicht besser, aber immerhin bin ich damit nicht alleine.
Jetzt sitzen wir also in geschlossenen Räumen und können uns besonders gut mit Corona anstecken. Deshalb spricht Angela Merkel ja auch über die Wichtigkeit des Lüftens. Was auch sonst, oder?! Wusstet ihr, dass Lüften was Deutsches ist? Im Guardian ist ein ganzer Artikel über unseren Lüftfetischismus erschienen und ich habe mit Erstaunen gelesen, mit wieviel Erstaunen die Autorin beschreibt, dass hierzulande mindestens zweimal am Tag gelüftet wird.
Die europäischen/internationalen Unterschiede zeigen sich auch im Umgang mit den Fallzahlen. Während wir mit unserer 50er-Schwellwert-Inzidenz schon panisch, aber (noch) die Insel der Glückseligen sind (toitoitoi!), sind in Madrid manche – vorwiegend ärmere – Stadtteile mit Werten von 1.000 Infektionen auf 100.000 Einwohner im Lockdown. Während die reicheren Stadtviertel wenig betroffen sind. Kein Wunder, dass das sozialpolitischen Sprengstoff birgt. Und ich frage mich, was bei uns abginge, mit derart hohen Werten.
Kolumbien mit seinen 50 Millionen Einwohnern könnte noch im Oktober den Millionsten Corona-Infizierten “schaffen”.
Wenig Grund mich zu beschweren. Doof.
Ich bin nach wie vor in Kurzarbeit – im Moment heißt das: 3 Tage Arbeiten, 4 Tage Wochenende. Man sollte meinen, ich hätte mehr Zeit für den Blog ;). Die beiden Zahlen werden in den kommenden Monaten wohl tauschen.
Während andere noch/wieder Homeoffice machen sollen/müssen, gilt bei uns seit mehreren Wochen gilt ein 60%-Anwesenheitsgebot. Als solches betrachte ich es und ignoriere es.
Ein Tag im Büro pro Woche reicht. Den schätze ich dafür ganz anders und nehme mir bewusster Zeit, ein paar Minuten mit den Kollegen zu quatschen, die man auf dem Flur trifft und wenn die nett gemeinten Sticheleien quer durchs Büro geschossen werden, dann lacht auch mein Herz mit. Völlig ohne Zweifel bin ich stark auf der “soziales Wesen”-Seite, die durch mehr Homeoffice an anderer Stelle Ausgleich braucht. Was ebenfalls leidet ist die Bewegung. Vor-Corona habe ich mich immer gefragt, wie man 10.000 Schritte am Tag nicht schaffen kann – ich hatte sie auch ohne Sport. Now I know. An einem Homeoffice-Tag schaffe ich es ohne aktives Bemühen nicht über 5.000.
Trotzdem habe ich das mobile Arbeiten lieben gelernt. Die Mehr-Zeit durch weniger Pendeln und die freie Zeiteinteilung sind super. Den Computer aus- und insgesamt abzuschalten klappt gut. Einkaufen gehe ich nur noch am Vormittag, Joggen und Klettern auch. Nur Mittagsverabredungen in der Stadt bzw. mit den umliegend wohnenden Freunden habe ich nicht so richtig hinbekommen. Nächstes Jahr dann…
So weit weg ist das old normal. Und während ich mir eine Post-Corona Zeit überhaupt (noch) nicht (mehr) vorstellen kann, glaube ich, dass wir nicht aufs new normal warten müssen, wir stecken schon mittendrin. Was soll nächstes Jahr anders sein als dieses? Nichts. Zumindest nichts, woran mein sich nach Entscheidungssicherheit sehnender Kopf festhalten kann. Urlaubsplanung also entweder ganz kurzfristig, oder mit dem Wissen, dass es vielleicht nicht klappt. Den Laptop nicht mehr auf der Arbeit lassen, sondern ihn immer dabei haben. Und soll man Jobentscheidungen jetzt eher von Personen oder von Aufgaben abhängig machen? Scheint beides aktuell gleich instabil zu sein. Gar nicht entscheiden? Ich fühle mich wie ein Huhn, das in erstarrter Körperposition den Kopf panisch von links nach rechts dreht und nicht weiß, wohin es laufen soll. Damit bin ich nicht alleine, das weiß ich. Wir können eine Selbsthilfegruppe aufmachen und “Entscheiden unter Unsicherheit” üben. Irgendwie müssen wir (ich) ja wieder ins Machen kommen.
Das fühlt sich aber schwer an, ich hänge gerade in einer Depri-Schleife. Dass man sich den ganzen Sommer über in kleinen Gruppen zum Kochen und Essen auf dem Balkon verabredet hat, war ja schon schön. Aber auch etwas einseitig. Balkon und Menschengruppen sind erst mal wieder rum. Das ist zwar Jammern auf sehr hohem Niveau, nur: mir fehlte dieses Jahr insgesamt schon der geistige Input. Wie soll das denn jetzt werden?! Habt ihr Ideen? Sonst einfach doch: Selbsthilfegruppe und virtueller Buchclub?!
Bleibt stark, lasst euch die Laune nicht verderben und lüftet fleißig!
Dazu noch ein Fun Fact: “Dass im Winter kürzer gelüftet werden muss, hat mit Physik zu tun und nicht mit Rücksicht auf das Temperaturempfinden der Menschen im Raum. Warme und kalte Luft besitzen eine unterschiedliche Dichte, die zu unterschiedlichen Druckverhältnissen führt. Das wirkt sich auf das Lüften aus: Durch ihre höhere Dichte drängt kalte Winterluft wesentlich schneller in einen warmen Raum als warme Sommerluft. Je größer also die Temperaturunterschiede zwischen drinnen und draußen sind, desto schneller tauscht sich die Luft aus.” Hab ich mir nicht selbst ausgedacht, sagt der Spiegel.
Dass Corona (hoffentlich!) eine once-in-a-lifetime-Erfahrung ist, lässt sich wohl nicht bestreiten. Und wir vergessen so schnell, wie es sich IN dieser Situation anfühlt, dass ich, v.a. aus Dokumentationsgründen für später, hier mein Corona-Tagebuch führe:
- März 2020: Corona is what happens while you’re busy making other plans
- Mai 2020: Corona: Die nächste Phase
- Oktober 2020: Der (erste) Coronaherbst
- März 2021: Der Coronawinter: Katerstimmung
- September 2021: Corona-Sommer 2: Talfahrt der Inzidenz
1 Comment
Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen 🙂
Hi! Bin seit 2018 nicht mehr auf meinem blog gewesen. Aber zu Deiner Frage: Was man machen kann? Ja, genau das. Bloggen. Uuuuund: Im November geht der NaNoWriMo wieder los. National Novel Writing Month. Jawoll! 30 Tage – 50.000 Wörter. Wäre das nichts für Dich? Man kann alles schreiben! Roman, fanfiction, Sachbuch – was du wolle.
Die Corona Warn-App habe ich noch gar nicht auf meinem Handy. Wohne sehr ländlich. Wäre aber besser, denke ich mir.
Alles liebe im home office! Vergiß die Maske nicht 😉