Am Wochenende hatte ich meine Kontakte per WhatsApp-Status nach ihren Corona-Bullshit-Bingo-Begriffen gefragt. Das ist die Liste:

  • Toilettenpapier
  • Homeofficetipps
  • nur ne Grippe
  • Desinfektionsmittel
  • Maske
  • Telko / Viko / seht-ihr-meinen-Bildschirm / könnt-ihr-mich-hören / schlechte-Verbindung
  • Die neue Normalität / The new normal
  • #wirbleibenzuhause
  • social distancing
  • RKI
  • Reproduktionsrate
  • China
  • Trump
  • Helden des Alltags
  •  „aufgrund der aktuellen Situation“

Jupp, die kommen tatsächlich alle häufig vor und man kann sie kaum noch hören. Außer Helden des Alltags, da bin ich von Deutschland enttäuscht. Meine sind übrigens all die jungen Familien, die seit Monaten ihre Vollzeitjobs & rund-um-die-Uhr-Kinderbetreuung ZU HAUSE ohne Großeltern meistern. Kindergärten und Kitas müssen wieder aufmachen dürfen!

Und die – natürlich nicht vollständige und repräsentative – Liste zeigt: Die erste Panik-Phase ist vorbei, über den Lockdown sind wir gedanklich schon fast hinweg. Dabei geht es ja gerade erst los mit den Lockerungen in Bezug auf Kontakte (es dürfen sich zwei Haushalte treffen), und der Wiedereröffnung von Restaurants, Läden und Schulen.

Das zeigt wieder, wie schnell man sich an alles gewöhnt. Also, fast zumindest. Ich habe mich vergangene Woche 1,5 Mal aus der Wohnung ausgesperrt, weil mir im letzten Moment die Mund-Nase-Maske eingefallen ist (und ich dann den Schlüssel vergessen habe…). Mein Training, das Haus-verlass-Trio Handy-Schlüssel-Geld auf das Quartett inkl. Maske auszweiten, gelingt mir offensichtlich eher schlecht als recht. Freiwillig habe ich die Maske nicht getragen. Jetzt – wo ich, ob der Tragepflicht auf der Arbeit, in Läden und öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht mehr drum herumkomme – freue ich mich jedoch, meine wunderbaren Vietnam-Masken wieder zu benutzen. Die haben Anja und ich 2012 dort zum Rollerfahren gekauft, anders ging das mit Staub und Abgasen einfach nicht… Und was ein Wunder, dass ich sie überhaupt noch habe!

Mittlerweile fühlt sich allein die Erinnerung ans Reisen wie Reisen an. Das muss Entwöhnung sein?! Ein weiteres faszinierendes Phänomen: Ich merke, dass bei Prä-Corona-Aktionen wie “mit Kollegen zur Kantine laufen” (die jetzt trotz superleckeren Essens nach der Wiedereröffnung mit Corona den Charme eines Abitur-Prüfungsraums hat) Distanz halten viel schwieriger ist, als im Supermarkt. Ersteres ist im Hirn noch nicht neu gepolt, Supermarkt-Distanz haben wir in den letzten Wochen schon gut traniert. Und geht euch das auch so? Ich schaue drei Monate (!) alte Fotos an (same same bei Filmen) und sehe Gruppenfotos (viele Menschen eng beeinander! Aaaaahhhh!!!) und Österreich- und Schweizausflugsfotos und es fühlt sich so fern an, als sei es in einem anderen Leben gewesen.

Das aktuelle Leben ist entspannt. Man kann wieder weiter als bis morgen planen, aber nicht weiter als einen Monat. Für den Seelenfrieden eigentlich optimal: keine Paniksituation, aber auch kein (Freizeit-)Stress.

Das Thema Corona beherrscht natürlich weiter alle Gespräche. Sonst passiert ja auch nichts… Trotzdem ist es anders. Ich habe seit Wochen keine Ahnung mehr von den Fallzahlen. Die Tabellen, die ich im März täglich gecheckt habe, sind jetzt so interessant wie die Tabelle der Fußball-Bundesliga. (Apropos: dass die Wiederaufnahme des Spielbetriebs so intensiv diskutiert wurde, zeigt mir deutlich, dass es uns noch sehr gut geht.) Die Schutzwirkung der Masken wurde zu Beginn klein geredet, jetzt haben wir eine Tragepflicht. Die große Hoffnung Herdenimmunität hat sich in Luft aufgelöst (Oder?). Ob beatmen jetzt gut oder schlecht ist – weiß man nicht (mehr). Apelle zur Desinfektion gibt es entweder nicht mehr, oder ich überhöre sie. Ein Impfstoff ist nicht in Sicht. Also unterhält man sich jetzt darüber, ob der extrem trockene April vielleicht mit den fehlenden Flugzeugkondensstreifen zu tun hat (aktuell finden nur 5% der Prä-Corona-Abflüge statt). Manches bleibt aber wie immer: Trump erzählt immer noch viel Quatsch und kommt doch ungeschoren davon.
Bei all der Unsicherheit und den hüs und hotts ist es doch kein Wunder, dass wir (so habe ich es gestern gelesen) so anfällig für Verschwörungstheorien sind wie noch nie.

Fakt ist: ich bin sehr glücklich, dass uns in dieser ersten Welle ein großes Drama und die Überlastung unseres Gesundheitssystems (das, sofern das keine Fake-News sind, aktuell auch eher in Kurzarbeit ist) erspart geblieben ist. Wäre Corona während des Karnevals schon da gewesen…
Gleichzeitig kenne ich nach wie vor niemanden, der krank war oder ist. Da mich reine Zahlen null beeindrucken und ich auch einen emotionalen Anker brauche, fühlt sich Corona für mich sehr weit weg an. Auch wenn es mein komplettes Leben beherrscht. Wie gerne würde ich ein paar Monate/Jahre in die Zukunft spulen, um besser beurteilen zu können, ob wir gerade über- oder untertreiben.

In meiner aktuellen Kurzarbeitssituation (luxuriös: mehr Freizeit, fast das gleiche Gehalt, keine Arbeitsplatzsorgen) geht es mir durchaus gut.
Der Balkon freut sich, mich so viel zu sehen, ich koche ausufernd, mache viel Sport und war schon öfter biwakieren als im letzten Jahr. Und ich lese und mache mir Gedanken über Post-Corona.

Dass es kein Zurück zu Vor-Corona gibt, das hoffe ich. Wäre das nicht jetzt ein Top-Zeitpunkt, manche Dinge besser zu machen? Mehr Gesundschrumpfen, weniger Überlastung, mehr Regionalität, weniger Wachstums-Getriebenheit – das wäre uns doch schon zu wünschen.

Ganz im Gegensatz zu einer schwachen EU. Und Nationalstaaten, die aus Faulheit, Furcht, Egoismus, … die Grenzen (der Länder und die im Kopf) nicht wieder aufmachen. In dieser unfreiwilligen Biedermeier-Zeit, in der sich alle (auch ich, dass muss ich unumwunden zugeben) auf einmal ausschließlich auf sich schauen und sich in ihre Häuslichkeit zurück ziehen, habe ich Sorge, dass wir den europäischen und den globalen Gedanken zu leicht aus der Hand geben. Und uns damit – ja, ich übertreibe, aber nur leicht – direkt ins Mittelalter zurückkatapultieren.

Letzte Woche bin ich auf verschiedene Texte des Zukunftsinstituts gestoßen und die vier Zukunftszenarien, die dort unter dem Titel “Der Corona-Effekt” beschrieben werden, sind, bis auf eine, für mich ganz furchtbar. Ich sehe es wie Harari (lese gerade Sapiens – Empfehlung!) und schließe mit seinem Schlusswort aus dem unten genannten Artikel:

In this moment of crisis, the crucial struggle takes place within humanity itself. If this epidemic results in greater disunity and mistrust among humans, it will be the virus’s greatest victory. When humans squabble – viruses double. In contrast, if the epidemic results in closer global cooperation, it will be a victory not only against the coronavirus, but against all future pathogens.

Yuval Noah Harari: In the Battle Against Coronavirus, Humanity Lacks Leadership. TIME

Elis Übersetzung: In dieser Krise findet der entscheidende Kampf in und zwischen den Menschen statt. Wenn die Epidemie größere Uneinigkeit und mehr Misstrauen zwischen den Menschen zur Folge hat, dann ist das der größte Erfolg des Virus. Wenn Menschen streiten, vermehren sich die Viren. Wenn hingegen die Epidemie zu einer engeren globalen Kooperation fürt, dann ist das nicht nur ein Sieg über das Corona-Virus, sondern auch über alle zukünftigen Erreger.

Dass Corona (hoffentlich!) eine once-in-a-lifetime-Erfahrung ist, lässt sich wohl nicht bestreiten. Und wir vergessen so schnell, wie es sich IN dieser Situation anfühlt, dass ich, v.a. aus Dokumentationsgründen für später, hier mein Corona-Tagebuch führe:

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