Hinter uns rauscht das türkisfarbene Meer, die Sonne scheint, es ist wunderschön. Die Frage, ob wir ins Wasser springen, stellt sich noch nicht. Erstmal stehen wir vor einer steilen Wand. Die Kletterroute ist nicht so lang. An den meisten Stellen sieht es nach guten bis akzeptablen Griffen und Tritten aus. Die Bohrhakenabstände scheinen auch okay. Bleibt die Frage: fühlt es sich in der Wand dann auch so gut an? Kommen wir hoch?
Es ist Oktober 2021 und ich bin mit Conny zum Klettern auf Sardinien. Wir klettern beide ähnlich gut (oder schlecht – je nachdem mit wem man spricht) und sind zum ersten Mal gemeinsam im Urlaub. Bei unseren vorherigen Kletterulauben waren wir immer größere Gruppen und es waren erfahrerene und bessere Kletterer dabei. Damit war ich nie gezwungen Routen zu eröffnen oder vorzusteigen, wenn ich das nicht wollte. Es war also jemand da, der das Material bei Nicht-Erfolg aus der Route holen konnte. Sehr bequem für mich.
Jetzt stehen wir zu zweit da und sind für uns selbst verantwortlich.
Klar, wenns nicht funktioniert, kann man die Exe in der Wand hängen und sich abseilen lassen. Die 20 Euro zurückgelassenes Material sind im Fall der Fälle auch egal. Den Betrag habe ich schon vielfach unsinniger ausgegeben. Aber die / meine / unsere Kletterethik verbietet das eigentlich.


Also, ich steige ein. Der erste Teil geht gut. Dann wird es aber doch brenzlig (sagt zumindest mein Kopf). Ich traue mich nicht über die nächste Sicherung hinaus. Ich probiere es mehrfach, in mehreren Varianten. Keine Chance… Conny ist dran. Und sie klettert im zweiten Anlauf easypeasy drüber und macht die Route fertig. Yeah! Ihr Honigkuchenpferdgrinsen geht auch den restlichen Tag nicht weg, Conny hat ihr climber’s high und ist zu Recht stolz auf sich.

Ein paar Tage später stehen wir – wieder rauscht das Meer ganz wunderbar und die Sonne geht gerade auf – am Eingang zu einer Mehrseillängenroute. Die dritte Seillänge ist die schwerste und ich habe eingewilligt sie vorzusteigen. Die Aussicht auf Frühstück auf diesem Felsen, 100 Meter über dem Meer, ist viel zu schön. Los geht’s! Wir kommen klar (schütteln sogar über andere den Kopf), aber so richtig Ahnung haben wir nicht (wenn man am Standplatz hängend aus der Nachbarroute gefragt wird, ob alles okay ist…). Es geht langsam vorwärts und die Schlüsselstelle kommt. Gleich zu Beginn der Seillänge. Ich würde auf Conny fallen – ein Sturz ist keine Option. Zurück geht nicht, also weiter. Nach oben. … Und natürlich hab ichs geschafft. Diesmal bin ich dran mit Honigkuchenpferd. Yeah!


Für mich war der ganze Urlaub und speziell diese Tour an der Pedra Longa ein Heureka-Moment. Wieder zurück in Deutschland bin ich in der Halle einen Grad schwerer geklettert als vorher.
Warum? Was war da passiert?
Mehr Kraft oder Training war es nicht. Es hat sich was in meinem Kopf geändert – und Klettern ist ja eh vor allem mental. Ich hatte weniger Angst und mehr Fehlertoleranz. Der Knackpunkt war das “auf uns allein gestellt sein”. Es selber entscheiden und lösen müssen. Und dabei zu merken: Es geht. Wir sind in diesem Urlaub nicht so schwer geklettert wie wir vorher dachten, aber wir sind im sweet spot gelandet – dem “Lernplatz” am Rand der Komfortzone. Ohne uns zu überfordern.
Was für mich blieb, ist das “ich kann das”-Gefühl. Das habe ich mitgenommen und bewahrt.
Das ist manchmal mühsam und je nach Tagesform Überwindung. Es hilft, dass die schon-immer-Kletterclique, die ihren Augen nicht getraut hat, sagt: “Du hättest das schon immer gekonnt” und mich nicht vom Haken lässt.
In einem Podcast hat Ulligunde das schön zusammen gefasst und mir außerdem deutlich gemacht, dass diese Art des Lernens auf viele andere Momente im Leben übertragbar ist: Es ist sehr wertvoll, von stärkeren (in diesem Fall) Kletterern lernen zu können. In diesem geschützten Rahmen kann ich viel mehr ausprobieren (ich muss es allerdings auch tun und mich nicht nur bequem zurücklehnen). Gleichzeitig muss ich selbst mal in Führung gehen. Das zeigt mir, ob und wie gut ich etwas kann und gibt mir Selbstvertrauen. Unterschiedliche Möglichkeiten in unterschiedlichen Konstellationen bewusst suchen und nutzen – so geht Lernen. Und das gilt nicht nur fürs Klettern, meine Lieben!



Hier der Link zur oben angesprochenen Ulligunde-Podcastfolge: auf ihrer Website | auf Spotify. Ich “kenne” sie noch nicht so lang, war aber direkt begeistert. Wie sie diese Gespräche führt und spricht ist einfach toll. Die Bergthemen natürlich auch… Der Tipp zu Ulligunde kam – Überraschung! – von Conny.
P.S.: Den besseren Grad habe ich Conny noch aus einem anderen Grund zu verdanken: Meine kraftraubenden Frontalkletterzüge hat sie gerne mitleidlos kommentiert, z.B. mit “da hätte man sich auch eindrehen können”. Dann hab ich halt mal angefangen, Klettertechnik einzusetzen. Auf meinen leichten Neid auf ihre Hüftflexibilität kam “Yoga wäre ‘ne Lösung”, aber man muss ja nicht alles mitmachen…
Danke 💚 für diesen tollen Urlaub und deine Freundschaft!
Spannende Themen!
Ich möchte keinen Beitrag mehr verpassen, bin aber auch zu faul, hier regelmäßig nachzuschauen… Eine E-Mailbenachrichtung bei neuen Posts wäre toll!