Gut Ding will Weile haben… Die Peaks of the Balkan spuken schon länger in meinem Kopf herum, so richtig gepasst hat es nie. Bis jetzt. Dann wurde nicht lange gefackelt, sondern Flüge für übernächste Woche gebucht! Viel zu planen gab es nicht, die Rahmendaten sind ja fix: Der Peaks of the Balkans ist ein ~190 Kilometer langer / 10 Tage dauernder Rundwanderweg durch das Prokletije-Gebirge in Albanien, Kosovo und Montenegro. Er kann an verschiedenen Stellen angefangen, beendet und abgekürzt oder verlängert werden. Pro Etappe sind im Schnitt ca. 1000 Höhenmeter zwischen 800 und 2300 Meter über NN zu bewältigen. Für Lisa, eine ebenfalls outdoor- und wanderfitten Freundin, und mich klang das gut machbar. Für alle Fälle haben wir einen Zusatztag eingeplant, schließlich wird Prokletije mit “die verfluchten Berge” übersetzt. Nomen ist in diesem Fall hoffentlich nicht Omen!
Wir sind völlig überfordert. FFP2-bewaffnet sind wir aus Corona-Deutschland ausgereist und stehen nun in der Ankunftshalle von Tirana. Keiner trägt Maske. Wir hatten unseren Transfer vorab gebucht und sehen Valentino sofort, der eine Balkan n’Adventures-Fahne schwenkt. Wie schön! Er hat uns auch direkt als Zielpersonen identifiziert, strahlt, und streckt uns die Hand entgegen. Aaahhh!! Man gibt doch keine Hände mehr! (Und ich hab es auch nicht vermisst!) Aber es wäre unhöflich! Ach… Lächeln! Und so folgt der erste Händedruck nach einem Jahr und drei Monaten.
Es war nicht der letzte. In den Guesthouses wurden wir häufig an der Grundstückgrenze mit einem Händedruck begrüßt. Und dabei haben sie sich gefühlt zurückgehalten, so manche(r) wäre uns am liebsten um den Hals gefallen. Der Kompromiss war dann ein Schulterklopfen oder Wangetätscheln. Auch wenn der abgeschaffte Händedruck zu meinen Top 3 der Corona-Vorteilen gehört: Dieser Herzlichkeit kann ich mich nicht entziehen, meine Abwehr schmilzt in Sekunden.
Glücklich sind unsere Gastgeber auch über die Geschwindigkeit, in der wir ihr in Miniküchen gezaubertes Essen in uns hineinschaufeln. Das ist schwer (denn “reichlich” ist kein Ausdruck) und leicht (lecker!!!) gleichzeitig. Gurke, Tomate, Käse und Brot sind die Basics, die unterschiedlich erweitert werden. Gefüllte Paprika, oder Paprika in Käsesauce oder Kartoffeln und Bohnen oder… Herrlich auch für die Entscheidungsvermeider unter uns: es wird nicht bestellt, sondern aus dem Nichts tauchen weitere Teller auf, alle Anwesenden bekommen das gleiche.

Kein Wunder, dass man in diesem Familiengefühl schnell zu einer Gruppe zusammenwächst. Wo in der Rekordsaison 2019 noch 70 Gäste pro Tag zusammen kamen, sitzen wir jetzt als Saisoneröffner zu sechst bis zehnt um den Tisch. Es ist also noch intimer als auf dem Jakobsweg – hier sind die Etappen (noch) relativ festgelegt. Das ist auch schön, denn es sind ausschließlich nette Menschen unterwegs. Mit den vier jungen Holländern schmieden wir Pläne für eine “Peaks of the Netherlands”-Tour – dort ist der Gipfel-Raki schneller verdient. Sie schlagen sich trotz fehlenden Trainings und überflüssigen Gepäcks (Jeans!) gut. Mit Mario und Iris aus dem Erzgebirge streiten wir scherzhaft, ob wir vier (später sechs) eine Zweck- oder eine Schicksalsgemeinschaft sind. Aber wenn man einen Pausentag gemeinsam für “Beauty” (also: den Blasen eine Pause gönnen, Pommes essen und Nägel schneiden) oder wahlweise rucksackfreies Speedwandern nutzen kann, dann ist das schon sehr gut.
Die deutsch-niederländische Konzentration auf dem PoB (wie der Profi sagt) ist kein Zufall: Wesentlichen Anteil an der Erschließung des Weges hat die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), und der DAV hat die lokalen Guides ausgebildet. Die Marketingtrommel wurde entsprechend auch im deutschsprachigen (Nachbar-)Raum gerührt.

Eine unerwartete Begleiterin haben Lisa und ich gleich am ersten Tag aufgegabelt. Wobei das ungenau ist, denn sie hat uns ausgesucht. Kurz vor dem ersten Pass springt ein kleiner, hyperaktiver Hund umher. Als wir uns einige Stunden später endlich von der (gepäcklosen) albanischen Männertag-Wandergruppe abgesetzt haben, taucht der Hund wieder auf. Sie begleitet uns den ganzen restlichen Tag und … folgt uns auch ins Guesthouse. Dort ist man nur mittelbegeistert, aber auch das geschlossene Tor hält sie nicht ab. Nur die Schwiegermutter bleibt skeptisch, die anderen sind schnell um den Finger gewickelt – auch der ehrwürdige Hausrüde, der sie unter seine Fittiche nimmt.
Die Holländer scherzen, dass wir sie nicht mehr loswerden und ihr besser einen anderen Namen als “Hund” geben, aber das sehen wir nicht so. Sie haben aber Recht: Hund bleibt fünf Tage bei uns. Und wir schwören, dass wir sie an den ersten drei Tagen nicht gefüttert haben!

“Ist das euer Hund?” ist tatsächlich ein guter door opener, stellen wir fest. Sie wird überall freundlich mit aufgenommen und für uns ist sie eine Quelle des Erstaunens: sie macht locker 5x unsere Strecke und Höhenmeter. Ab Tag 2 rächt sich das allerdings: Am Nachmittag fällt sie, sobald wir unsere Rucksäcke am Übernachtungsdomizil absetzen, neben unseren Füßen zusammen und ist erstmal selbst zum Fressen zu erledigt. Die Ruhezeit bis zum Morgen reicht aber. Sobald wir uns zeigen, ist sie wieder schwanzwedelnd fit und kann kaum erwarten, dass es losgeht.

Freud und Leid liegen ja häufig nah beieinander. Überraschend schnell gewöhnen wir uns an Hunds Begleitung und die Hilfe bei der Wegefindung. Als sie am Morgen von Tag 3 beschließt lieber mit den Schweizern weiterzuziehen. trifft uns das unerwartet hart. Bei einer Bar treffen wir sie wieder – und auch ihren Besitzer: Ein Auto fährt vorbei, bremst, ein Mann steigt aus, redet auf Hund ein und zeigt aufs Auto. Hund ignoriert ihn und läuft ein paar Meter davon. Der Mann zuckt mit den Schultern, steigt wieder ins Auto und sie fahren davon. Der Guide der Schweizer übersetzt uns, dass sie wohl aus Montenegro ist.
Unpraktisch ist eine Hundebegleitung, wenn man auf Hunde trifft. Vor allem, wenn der Hund zwar eine große Klappe hat und erst mal alles ankläfft, sich dann aber doch lieber hinter uns versteckt, wenn der andere Hund die Zähne zeigt. So wurden wir also öfter angeknurrt als es hätte sein müssen. Es waren auch ihre Artgenossen, die unsere gemeinsame Riese beendet haben. Die Schaf- und Ziegenherden werden von Hütehunden begleitet und die haben nur eine Aufgabe: Ihre Herde zu beschützen. Lisa und ich wurden genau beobachtet, aber da wir uns der Herde auch nicht genähert haben, durften wir passieren. Am Morgen von Tag 5 wurde Hund in einer solchen Situation aber der Weg abgeschnitten und sie außer Sichtweite zurück gedrängt. Ein bisschen sind wir davon ausgegangen, dass sie über Umwege wieder auftaucht. Dem war aber nicht so. Wir hoffen, sie hat andere schnelle Wanderer getroffen, die sie adoptieren konnte.

Am Tag darauf hat sich uns kurzzeitig ein neuer Hund angeschlossen. Allerdings nur für ein paar Kilometer und als hyperaktiv konnte man ihn wirklich nicht bezeichnen. Im nächsten Ort rasten wir in einem Guesthouse und der Opa dort wusste, wo der Hund hingehört. Opi hat kurzerhand seinen Gürtel als Leine verwendet, als der Hund uns beim Abschied durch das Gartentor folgen wollte.
Der gleiche Opi war auch etwas ungehalten, dass wir kein Französisch sprechen – das konnte er nämlich. Die Zweitsprachenvielfalt dort ist groß! Neben sehr viel Englisch und Deutsch hat man auch versucht, mit uns auf Spanisch, Italienisch und Russisch zu sprechen. Die Freude war bei entdeckter Schnittmenge auf beiden Seiten groß. Und es gab herrliche Begegnungen. Im Kosovo, an einem Picknickplatz vor dem Abzweig zum Hajla, begegnen wir bei strahlendem Sonnenschein einem älteren Herrn in Turnschuhen und Sportsakko, der einen Regenschirm dabei hat. Er sei auf dem Weg nach Montenegro, erzählt er uns auf Englisch. Und ob auf den Hajla, in den nächsten Ort oder nach Montenegro – alles ist bei ihm “one week” entfernt. Wir sind uns sicher, dass das eine dehnbare Zeiteinheit ist, die eher “einige Stunden” meint und können uns das Schmunzeln nicht verkneifen.

Wo keine gemeinsame Sprache vorhanden war, da ging es halt mit Händen und Füßen. Hilfreich war, wenn die Gesprächspartner unbeirrt weitergesprochen haben, denn das ein oder andere Wort versteht man ja doch immer. So wie beim Ziegen-Peter. Seine Ziegenherde hat unsere Sechsergruppe ausgebremst und er hat sich unglaublich gefreut, uns zu treffen. Und uns sofort zu sich auf seine Terrasse (also die große Wiese vor seiner Bretterhütte) eingeladen, um uns Yoghurt (sehr mild, sehr sicher selbstgemacht) und Multivitaminsaft (gekauft, herrlich zuckrig) zu servieren und aus seinem Leben zu erzählen. Mario hat sich über Ziegen-Peters Gewehr am meisten gefreut. Wir uns, dass Dennis bereitwillig den Yoghurt von allen leergelöffelt hat. Ohne Magen-Darm-Konsequenzen, übrigens. Ein ungelöstes Rätsel ist, ob uns der starke Geruch von Ziegen-Peter aufgefallen ist, weil es ein anderer Geruch war als unserer (und er sich auch dachte: immer diese stinkenden Wanderer), oder ob es bei uns noch nicht so ausgeprägt war.

Geschwitzt haben wir in den 11 Tagen auf dem Trail reichlich. Und manches Mal sank die Laune, wenn wieder mehrere Bäume den Weg versperrt haben und wir aufwändig drum herum klettern mussten. Oder als ein 500 Höhenmeter langer Abstieg einfach steil durch ungeräumten Wald mit Buchenlaubdecke ging. Kennt ihr das Gefühl, wenn kleine feine Äste, Brombeerranken oder Tannennadeln gegen sonnencreme-schwitzige Haut gepeitscht werden? Das tut unverhältnismäßig weh und brennt vor allem lange. Das Gute: die vielen Kratzer machen die Story des Kampfs mit einem Bären deutlich glaubwürdiger.
Bären, Luchse, Wölfe und (giftige) Schlangen gibt es im Verfluchten Gebirge einige. Schlangen begegnet man, die anderen Tiere sind so scheu, dass man nicht einmal Verhaltensratschläge mitbekommt (also anders als in Kanada und Alaska).
Sehr willkommen waren uns die Bäche, Schneefelder und Seen entlang des Weges. Eine herrliche Gelegenheit, das kühle Nass in den Nacken zu träufeln und das Kopftuch zu tränken. Badegelegenheiten sind leider rar gesät und nur im letzten Drittel zu finden. Dafür ist der Hridsko-See ein besonders schönes und kaltes Exemplar. Noch dazu mit einer Legende, die den Badenden Schönheit und ewige Jugend und so verspricht. Ich hoffe, es war noch rechtzeitig 😉

Die Szenerie hat für den Alpen-, Schwarzwald- und Kanada-/Neuseeland-erprobten Wanderer keine komplett neuen Eindrücke bereit gehalten. Was jedoch nicht heißt, dass es nicht wunderschön ist. Ausgedehnte Wiesen, unterschiedliche Wälder, schroffe Felsen, das ein oder andere Schneefeld, Trampelpfade, Fahrwege, weglose Wiese, Teer (im Kosovo) – es war alles mit dabei.
Ein für mich überraschender und fremder Anblick waren die Moscheen. Offensichtlich war ich in noch keiner muslimischen Region im Gebirge unterwegs. Was dort für alle normal ist, hat mich jedes Mal die Kamera auspacken lassen.

Hocherstaunlicherweise war die letzte Etappe keine der Sorte “bringen wir es hinter uns”, sondern noch mal ein Highlight. Gekrönt vom Bar-Stop (abzüglich der österreichischen Gruppe, die es über 10 Minuten nicht geschafft hat, genügend Geld für die Getränke auf den Tisch zu legen – aus Sorge, man würde vielleicht 50 Cent zu viel zahlen. SEHR PEINLICH) vor dem Auslaufen ein sehr würdiger Tourabschluss.
Fazit: Verflucht ist das Gebirge nicht, auch geflucht werden muss nur selten (Stichwort: Bärenattacke). Viel passender wäre “die willkommenen Berge”: So gut aufgehoben wie bei den Einheimischen und in unserer Zufalls-Schicksalsgemeinschaftswandergruppe habe ich mich lange nicht gefühlt.
Spannende Themen!
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