Mein geschätzter Kollege Ruben Gebauer postete Anfang der Woche folgenden Artikel in unserem firmeninternen social network. Er hat mich beeindruckt und wirkt noch nach. Ich bin mir sicher, dass es euch auch so gehen wird und freue mich deshalb, dass Ruben mir erlaubt hat, seinen Text hier zu veröffentlichen. Ich habe die direkten Bezüge aufs Unternehmen herausgenommen und ihn somit ein klitzekleines bisschen verallgemeinert, die Grundaussagen sind jedoch unverändert.  

Inspiriert von einem anderen Networking Post lehne ich mich mal weit aus dem Fenster und wage einen Kommentar zur Beobachtung des aktuellen Weltgeschehens. Denn ich glaube, dass einige Lernaspekte dabei sind, die auch für den Kulturwandel in Unternehmen relevant sind und ihn beleben können. Frei nach dem Motto: „Prüft alles und das Gute behaltet.“ (Zitat, die Bibel).

Ausgelöst durch den Ukraine-Konflikt erleben wir in diesen Tagen die überwältigend positiven Effekte einer freiwilligen (also frei und willig), für alle offenen, vollständig eigendynamischen und selbstorganisierten, durch unzählige Rückkopplungseffekte (teilen, liken, etc.) sich selbst verstärkenden und dazu vollständig globalen Netzwerk-Organisation.

Einschub Eli: Eine Organisation ist definiert als ein „soziales System“. Das kann ein Unternehmen sein, aber auch eine lose organisierte Gruppe, wie hier im Netzwerk-Fall – die allermeisten Beteiligten kennen sich nicht, es kennt aber jeder jemanden und, der/die kennt dann jemanden bzw. ich habe die Möglichkeit einfach viele (mir unbekannte) Menschen zu erreichen.

Opfer, Betroffene, Beteiligte und alle Macher, die nicht nur zuschauen wollen, sind in unglaublich kurzer Zeit (einige Stunden bis wenige Tage) durch die äußeren Umstände aktiviert worden und organisieren sich „glokal“ und eigenständig. Wichtig zu bemerken ist hier, dass der Antrieb eine gemeinsam geteilte Wertebasis zu sein scheint und alle geeint sind durch ein intrinsisches Ziel. Nämlich, sich mit der Lage zu identifizieren und deshalb aktiv zu werden. (Wertemuster und intrinsische Ziele sind zwei grundlegende kulturbeschreibende Aspekte, die uns meist nicht bewusst sind, aber im Hintergrund starke Wirkung erzeugen.)

Keine Hierarchie der Welt hätte diese Geschwindigkeit und Wirkung top-down organisieren können. Denn sie entspringt einem inneren Antrieb und nicht äußeren Vorgaben. „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“ – deshalb gibt es für die Aktivgewordenen auch kein limitierendes Silo-Denken à la „Nicht mein Land, nicht meine Zuständigkeit, nicht mein Aufgabengebiet, nicht meine Expertise, nicht mein …“ Stattdessen treibt sie die Haltung an: „Ich übernehme ungefragt (!) Verantwortung für etwas, was nicht (direkt) in meine Zuständigkeit fällt und beteilige mich mit meinen Möglichkeiten an der Bewältigung der großen Herausforderung.“ Dabei geht es vorrangig um das Geben, eine direkte Nutzenrückantwort ist nicht zu erwarten.

Gleichzeitig brauchen wir eine weitere Beobachtung, um das Bild zu vervollständigen. Die Wirkung dieser Netzwerk-Organisation würde weitaus geringer ausfallen ohne das gleichzeitige, abgestimmte, entschiedene, hierarchische Handeln der Offiziellen dieser Welt. Sie geben die grundlegende „Marschrichtung“ vor, beschließen Sanktionen, Hilfeleistungen, sonstige Maßnahmen und setzen diese top-down durch. Möglichkeiten, die eine reine Netzwerk-Organisation wohl kaum hätte.

Wir haben daher aktuell eine beispiellos wirksame Situation des Sowohl-als-auch (kein Entweder-oder!). Es ist die perfekte Symbiose von top-down und bottom-up. Hierarchische- und Netzwerk-Organisation agieren unabhängig voneinander, jedoch ganz natürlich nebeneinander. Sie beeinflussen sich gegenseitig und verstärken sich dabei sogar noch. Wir erleben gerade in Echtzeit, dass eine Netzwerk-Organisation ein massiver Wirkungsverstärker hierarchischer Weichenstellungen sein kann. Es funktioniert aber nur, weil beide so deutlich vorhanden sind. Dadurch sind sie kein Widerspruch, sondern eine unglaublich starke Ergänzung. Weder Hierarchie noch Netzwerk wären für sich so derart wirksam.

Und der Key-Enabler für dieses Netzwerk-Verhalten ist die Digitalisierung. Nun profitieren wir von den existenten und funktionierenden sozialen Netzwerken und den über Jahre gewachsenen Verbindungen und Beziehungen. Sie sind jetzt relevant und es ist gut, dass wir sie nicht erst aufbauen müssen. Gleichzeitig ist die Vernetzungswilligkeit und -dichte noch einmal massiv gestiegen.

Hinter dieser Wirksamkeit steckt das kybernetische Grundprinzip, dass W.R. Ashby bereits in den 50er-Jahren postuliert hat: „Ein komplex-vernetztes Problemsystem braucht ein genauso komplex-vernetztes Lösungssystem.“ Oder frei übersetzt mit den Worten von Prof. Dr. Peter Kruse: „Nur wenn wir es schaffen selbst unkalkulierbare Eigendynamiken zu erzeugen, können wir angemessen auf unkalkulierbare Eigendynamiken reagieren […] Und dazu muss man Netzwerke bauen.“ Dabei geht es um Reaktionsgeschwindigkeit, also das, was wir mit Agilität meinen. Und eine ultra-hohe Agilität ist notwendig (und wichtig), um das Geschehen im Außen beeinflussen zu können, noch während es geschieht. Zukunft ist nicht etwas, was uns „passiert“. Wer agiert statt reagiert, der bleibt handlungsfähig und ist nicht gezwungen, dem Geschehen hinterherzurennen – im Versuch, noch irgendwie Schritt zu halten oder Schäden zu begrenzen. Wir wollen fähig bleiben, die Zukunft zu beeinflussen, während sie geschieht. Und deshalb müssen wir unsere Reaktionsgeschwindigkeit und die Wirksamkeit der Hierarchie durch agile Netzwerke anreichern.

Bei uns ist das noch zu wenig ausgeprägt, von „der Hierarchie“ aber erkannt und gewünscht.

Key-Learnings:

  • Netzwerke ersetzen nicht Hierarchie, sondern ergänzen und potenzieren sie dort, wo eine gemeinsame Wertebasis geteilt und gemeinsame Ziele verfolgt werden. Ohne diese beiden Zutaten können beide Spielsysteme aber auch in den Konflikt geraten.
  • Agilität bedeutet Reaktionsschnelligkeit. Und um diese zu erzeugen, müssen wir als/in der Organisation lernen, situativ und adhoc zwischen den beiden Spielsystemen der Hierarchie und Heterarchie umschalten zu können.
  • Mit Hierarchie haben wir jahr(zehnt)elange Übung. Eine (digitalisierte) Netzwerk-Organisation aufzubauen und eine hohe Vernetzungsdichte und Vernetzungsaktivität zu erreichen, halte ich für unsere Herausforderung. Wenn wir uns diese Fähigkeiten erworben haben, können wir komplexe Eigendynamiken erzeugen, die unsere „linearen Fähigkeiten“ um ein Vielfaches übersteigen. Wenn es uns gelingt, diese Beidhändigkeit (Ambidextrie) nicht im Widerspruch, sondern in der natürlichen gegenseitigen Ergänzung in unserer Kultur noch mehr zu verankern, dann gilt der Satz: „Die Fähigkeiten eines Systems sind mehr als die bloße Summe seiner Teile.“
  • Netzwerke entstehen nicht unbedingt anlassbezogen und sind nicht gemanagt. Aber sie aktivieren sich anlassbezogen und agieren selbstorganisiert. Die Eigenschaften einer Netzwerk-Organisation sind oben kursiv markiert.
  • Entscheidend ist die Haltung, Tools sind „nur“ der Enabler. Digitalisierung eröffnet diese globale Netzwerkmöglichkeit innerhalb und außerhalb der Firma. Unsere Haltung und unsere Fähigkeiten zum Netzwerken beeinflussen, ob und wie wir diese Tools nutzen. (Jeder kann selbst reflektieren, wo er in dieser Entwicklung steht.)

(Und nochmal zurück zum Ukraine-Konflikt: Meine persönliche Deutung auf Basis dieser Verständnis-Zusammenhänge ist, dass Putin und sein autokratisches (Denk-)System das Wirkpotential freier Netzwerke völlig unterschätzt hat, weil es ideologisch nicht vorkommen darf. Wir sehen ja auch, mit welcher Macht er versucht es zu unterdrücken. Er scheint allerdings ungewollt einen Resonanzpunkt im „Netzwerk unserer Welt“ getroffen zu haben, was die unglaublich starke Selbstverstärkung und Eigendynamik zeigen. Das kann uns Mut und Hoffnung machen.)

Als Host des Blogs bleibt mir das Recht des letzten Wortes, hehe. Ich möchte ergänzen, dass die Netwerk-Organisationen, wie von Ruben beschrieben, ohne die digitalen Tools in dieser Form nicht möglich wären. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass das Analoge (manche sagen auch „das echte Leben“) bedeutungslos ist. Im Gegenteil – in Zwiesprache entstandene Ideen verbreiten sich online nur schneller in die Welt. Und im virtuellen Raum geknüpfte Kontakte können offline ungeahnte, starke Koalitionen eingehen. Beispiel? Die russischstämmige und unglaublich aktive Vorsitzende eines Stuttgarter Vereins trifft online auf den lokalen Kulturhaudegen – 5 Tage später findet das Konzert auf einem vollen Marienplatz statt und über 12.000 Euro dabei gesammelte Spenden gehen an Stelp e.V./in die Ukraine. ❤️

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Eli Superschnelli

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen