“Warum habt ihr denn nichts gesagt?” fragt eine Freundin unter Tränen. Sie hatte von ihrer – nach eigenen Worten – andauernden Lebensunfähigkeit erzählt, die sich ein einem physischen und psychischen Zusammenbruch kumuliert hat. Auch nach Wochen ist es nicht besser. Und weil passende Worte finden und gute Ratschläge geben in solchen Momenten schwierig sind, hat jede aus unserer Runde von ihren eigenen schweren Zeiten erzählt, und was ihr geholfen hat. Postnatale Depression, Fehlgeburt, Depressionen während/nach dem Studium, Sinnkrisen, … Allen ging es uns schon mal über einen längeren Zeitraum dreckig.
Der Vorwurf, nichts gesagt zu haben, ist nur mittelgerechtfertigt. Jede hat – früher oder später – davon erzählt. Oft dauert es ja, bis man selbst dahinterkommt, (dass) was nicht stimmt. Und wir kennen uns über 15 Jahre, da vergisst man das ein oder andere (bei den anderen die negativen Sachen, bei sich selbst die guten – unser Hirn ist so undankbar programmiert). Aber: Jede von uns hat zugegeben, dass es ihr schwergefallen ist, offen darüber zu sprechen. Weil wir das Gefühl hatten, dass mit uns etwas falsch ist, dass das nicht normal ist und diese Schwäche nicht existieren darf. Und damit auch nicht zugegeben werden kann. Und wir allein damit klarkommen müssen. Warum auch andere belasten?
Dieses Gespräch hat im Sommer 2022 stattgefunden. Zeitlich ziemlich parallel habe ich die Zusage für einen neuen Job bekommen (yeah!) und die Diagnose “schwer veränderte Zellen” im Rahmen einer Gebärmutterhalskrebsvorsorgeuntersuchung (Gegenteil von yeah!). Beim nächsten Mal Klettern fragt eine Freundin “Eli, wie geht es dir?” und ich erzähle vom Job.
Und zögere.
Und halte einen Moment innere Zwiesprache.
Und beschließe es zu erzählen. Ihr, und allen anderen die fragen.
Denn es kann ja nicht sein, dass wir uns beim Lesen des vorletzten Absatzes dachten “oh, das ist aber ein ungesunder Umgang mit Problemen”, und es dann nicht besser machen. Völlig egal, ob das Problem physisch oder psychisch bedingt ist – für beides können wir in den meisten Fällen nichts. Und selbst wenn: Egal, mit den Konsequenzen muss man umgehen.
Wie erwartet werde ich viel in den Arm genommen. Unerwartet war für mich die Reaktionskette. Gerade dachte ich noch, ich wäre die einzige mit so einem Kack. Und höre plötzlich von vielen ähnlichen Geschichten. Das ist nicht schön, aber es tut gut, nicht die Einzige zu sein.
Bei genauerer Betrachtung war es nicht überraschend. Hast du schon einmal erlebt, wie schnell sich eine gerade noch steife Small-Talk-Unterhaltung just in dem Moment in ein nettes und echtes Gespräch wandelt, in dem man feststellt: oh, wir kommen aus der gleichen Ecke / haben gemeinsame Bekannte / das gleiche Hobby, o.ä. Das passiert, sobald eine Person anfängt und eine “halbprivate” Information preisgibt. Probier es mal aus!
Seit ich das verstanden habe, gehe ich gern in Informationsvorleistung – ich will interessante Gespräche. Vielleicht war es durch diese Übung nicht so schwer, von der OP zu erzählen, die das Problem der “schwer veränderten Zellen” beheben soll.
Ein positiver Nebeneffekt des Erzählens ist, dass ich mich mit den Implikationen dieser Diagnose und der Operation auseinandersetzen muss. Denn die Rückfragen sind unterschiedlich: Wie geht es dir emotional damit? Hast du Angst davor? Ist damit dann alles gut? Was wäre, wenn du die OP nicht machst? Wirst du danach Schmerzen haben? Wie lange darfst du keinen Sport machen?
So habe ich neue Sichtweisen gewonnen. Unerzählt hätte ich vieles ignoriert. Auch nicht gesund und nicht (viel) besser, als sich konstant Sorgen zu machen.
Einer der Gründe für es-nicht-erzählen war: Was ist, wenn die OP schief geht oder noch Schlimmeres eintritt? Das wissen dann ja auch alle. Will ich das dann auch noch? *
Konnte ich rausfinden, denn – hey! Genau der Fall ist eingetreten.
Die OP war eine Konisation und es hieß, dass dann alle komischen Zellen rausgeschnitten sind, nichts davon wieder kommt und ich schnell wieder fit bin. Dummerweise hat der pathologische Befund gezeigt, dass “schwer verändert” nicht ganz stimmt. Da waren diese Karzinomzellen… Damit habe ich Gebärmutterhalskrebs. Im frühesten Stadium. **
Möchte ich das jetzt auch erzählen? Allen? – Offensichtlich habe ich mich für “ja” entschieden. Relativ schnell. Aber es ist mittlerweile Anfang Oktober. Die Elizeit möchte vorbereitet und sehr viel Arbeit im neuen Job vor dem Sabbatical erledigt werden. Veröffentlichung nochmal verschoben.
Medizinisch war nicht klar, ob alle Krebszellen draußen sind. Die Empfehlung der Ärzte deshalb: besser die Gebärmutter entfernen. Dass ich keine Kinder möchte ist glasklar für mich und ich mache einen OP-Termin aus. Für Januar 2023.
Von meinen Freunden kamen diesmal keine “ich auch”-Antworten, sondern eher “Brustkrebs der Schwiegermutter”-Geschichten. Das war nur mittel hilfreich. Die schlechten Witze wusste ich jedoch sehr zu schätzen.
Auf der Arbeit habe ich es nur den engsten KollegInnen erzählt, nicht den Projektmitgliedern. Das hat sich erst komisch angefühlt, war aber eine gute Entscheidung. Das business as usual beim Arbeiten war wunderbar – ich konnte den Krebs den ganzen Tag vergessen. Wer nichts weiß, fragt logischerweise nicht nach. Gleiches galt für die Elizeit.
Zurück in Deutschland war auch das Thema zurück, die OP stand aber glücklicherweise vor der Tür. Die “alles gut gegangen, pathologischer Befund dauert aber noch”-Nachricht aus dem Krankenhaus habe ich an 30 Leute geschickt (Danke an der Stelle fürs Mitfiebern!). Es ist alles raus und es ist alles gut.
Auch der Freundin vom Beginn des Textes geht es seit ein paar Wochen wieder gut. Ob man es Burnout oder Erschöpfungsdepression nennt ist Geschmackssache, in jedem Fall ist der Genesungsprozess langwierig. Sie hat in jeder Phase viel reflektiert und einige Selbterkenntnisse verfestigt. Das war schön zu sehen und hat mich mitlernen lassen.
Ein guter Zeitpunkt, endlich den Post zu veröffentlichen.
Würde ich es das alles nochmal so machen?
Ja. Die Erfahrungen der letzten Monate haben mich in der Meinung bestärkt, dass nicht nur Krankheiten, sondern alle schlechten und/oder persönlichen Nachrichten durch offenen Umgang mit ihnen einfacher werden und gesünder sind. Natürlich muss man es nicht gleich der ganzen Welt erzählen, deinen guten Freunden bzw. denen, die selbst schon ähnliche Erfahrungen gemacht haben, aber schon.
Schlechte Zeiten (physisch und psychisch) sind normal und nichts, wofür man sich schämen muss.
Sie gehen auf jeden Fall vorbei, aber schneller/einfacher, wenn du dir helfen lässt.
Teste es mal: sei offen und erzähle davon. Das eröffnet neue Möglichkeiten und du wirst so viel Unterstützung erfahren.
Lässt sich (auch ohne aktuelles Leid) in “normalen” Gesprächen mit (Un-)Bekannten üben. Gib etwas Überraschendes über dich preis und lass ich überraschen.
Geh zu allen Vorsorgeuntersuchungen und schiebe sie nicht auf!!
___
* Das ist tatsächlich der Grund, warum ich den Artikel nicht im September veröffentlicht habe, obwohl er bis dahin in meinem Kopf schon gut gereift war.
** Im Nachhinein kann ich sagen:
- Ja, da war ein Karzinom – somit falle ich medizinisch/technisch in alle Krebs-Schubladen. De facto hat man das Karzinom erst entdeckt, als es schon draußen war. Das blöde an der Situation war die Ungewissheit, ob das alles war, oder sich noch mehr in meinem Körper versteckt. Antwort: Hat es nicht.
- (Aber) Ich hatte nichts. Keine Schmerzen, keine Einschränkung, keine Chemo, keine Strahlentherapie, nichts. Außer einer sehr häufigen OP, für die es viele Gründe gibt. Und weil Gebärmutterhalskrebs ohne Gebärmutterhals nicht wiederkommen kann, muss ich nicht mal einen Rückfall fürchten.
- Und warum? Weil wir trotz aller Mängel ein fantastisches Gesundheitssystem haben (ich war gerade in Südamerika…) und ich vor allem wegen der sehr frühen Entdeckung im Rahmen der Krebsvorsorge sagen kann “ich hatte nichts”.
Und weil so “nichts” war, bin ich mir relativ sicher, dass ich den Krebs-Teil der Geschichte in ein paar Jahren fast vergessen haben werde (außer, es lässt sich für Anekdoten gut verwenden). Bestimmt hat die ganze Episode trotzdem was mit mir gemacht. Was, das kann ich in den nächsten Monaten und Jahren herausfinden.
Spannende Themen!
Ich möchte keinen Beitrag mehr verpassen, bin aber auch zu faul, hier regelmäßig nachzuschauen… Eine E-Mailbenachrichtung bei neuen Posts wäre toll!