Einer meiner Bergfreunde sagte am vergangenen Wochenende, während wir auf der Sonnenterrasse einer Alpenhütte saßen und genüsslich den in Vanillesoße schwimmenden, hausgemachten Apfelstrudel löffelten: “Ein Klettersteig ist nie extrem. Man ist ja immer gesichert.”

Von besagter Terrasse blickt man auf einen wunderbar aussehenden Klettersteig (sofern man den Blick vom Apfelstrudel hebt). Und vor ein paar Augenblicken ist eine Zweiergruppe nach den ersten Metern Fels wieder umgekehrt.
Nun ist die Apfelstrudel-Klettersteig-Situation natürlich ähnlich wie die bei Spielen der deutschen Fußballnationalmannschaft – da sitzen auch Millionen perfekt geeigneter Trainer auf dem Sofa vor den TV-Geräten…

Wir fragten also zurück: “was ist denn dann extrem?”
Die Free Solo Besteigung des El Capitán von Alex Honnold zum Beispiel, war seine Antwort. Logisch. Mehr als das geht auch nicht… 1.000 Meter vertikale Wand ohne Seil und ohne Sicherung zu klettern, das ist wirklich so verrückt, dass ich auch beim nochmaligen Ansehen des Dokumentar-Trailers schwitzige Hände bekommen habe.

Schwitzige Hände hatte ich zwei Tage vor dem Apfelstrudel auch. Durch den langen und schneereichen Winter sind viele Wandertouren immer noch unmöglich oder erfordern das Queren von (großen) Schneefeldern. So erging es auch uns. Wir haben uns Wege durch die Hänge gespurt und dabei im Blick halten müssen, ob wir noch lawinensicher unterwegs sind. Und mitbedenken, was sich wohl unter dem Schnee befindet. Denn durch den Schnee metertief in einen Schmelzfluss zu brechen … bitte nicht!
Dann endlich: wir sind auf dem Pass und vor uns liegt die Südseite. Eine neue Welt mit Sonne, Wiesen und frisch sprießenden Frühlingsblumen. Hier gibt es nur noch einzelne Schneefelder, die sind dafür noch weniger vertrauenswürdig. So brauchen wir für 100 Meter Luftlinie mehrfach eine halbe Stunde. Auch mal auf allen Vieren, wenn wir ober- oder unterhalb des Schneefelds am Berg entlang klettern. Und ein unerwartetes erstes Mal: Zwischen der vertikalen Felswand links und dem noch meterhoch angefrorenem Schnee rechts hat sich ein Tunnel gebildet, durch den wir kriechen. Verrücktes Gefühl.

“Wenn jetzt noch ein Schneefeld kommt…”

Unsere Route bringt uns wieder auf die andere Bergseite und … vor uns breitet sich erneut eine geschlossene Schneedecke aus. Mittlerweile ist es Nachmittag, der Schnee ist angetaut, einzelne Stücke sind irgendwann herausgebrochen und abgegangen. Wir kämpfen uns durch den ersten Hang, es ist warm, es fühlt sich unsicher an, wir sind müde. Sitzen auf einem Felsbrocken, vom Schnee umgeben und können auch mit Karte und GPS den richtigen Weg durch das Tal nicht ausmachen. Spuren gibt es keine, dafür sieht es an einigen Stellen in der Ferne sehr steil und noch schneereicher aus. Das letzte Schild hatte uns verraten, dass wir (ohne Schnee) zwei Stunden bis zur Hütte bräuchten, wir rechnen also eher mit vier. Es ist 16 Uhr, wir sind seit 8 Stunden unterwegs.

Wir entschließen uns umzukehren. Der schnellste (und trotzdem nicht schneefreie) Weg in die Zivilisation ist in das Nachbartal abzusteigen. Nach 11 Wanderstunden kommen wir am Parkplatz an und freuen uns über Asphalt unter den Füßen (!). Zwei nette Wanderer fahren uns die 45 Minuten zu unserem Auto. Mit dem ersten Handysignal haben wir der Hütte Bescheid gegeben, dass wir heute nicht mehr kommen. Und uns eine Pension im Tal gebucht. Eine richtige Dusche ist jetzt ja das Mindeste.

War das extrem?

Weniger müde, und/oder in besserer körperlicher Verfassung, mit Steigeisen und ggfs. auch Pickel wäre der Weg gut machbar gewesen. Für erfahrenere Hochtourengeher auch. Für uns in dieser Situation: nicht extrem, aber abenteuerlich auf jeden Fall!

Beim Frühstück am nächsten Morgen lauschen wir mit leichtem Schmunzeln, als am Nachbartisch darüber diskutiert wird, ob ein Aufstieg von 90 Minuten zur xy-Hütte nicht schon ein bisschen viel sei.

Also ganz eindeutig: Ja, “extrem” ist sehr subjektiv.

Und das Wichtigste und Schwierigste ist es, realistisch einzuschätzen, was man (nicht) kann. Nun bin ich bekanntermaßen dafür, die eigenen Grenzen immer wieder zu pushen. Aber ob und wie weit das gehen darf, hängt natürlich von den möglichen Folgen ab. Und da die in den Bergen tendenziell lebensbedrohender sind als beispielsweise bei einem organisierten Hindernislauf, muss ich mich auch anders entscheiden. Bevor es extrem wird.
Und wenn man sieht wer und wie die Leute in den Bergen unterwegs sind ist es gut, wenn z.B. bei der European Outdoor Film Tour (das ist, salopp gesagt, ein Event mit vielen schweißnasse-Hände-Filmen über Verrückte…) nicht nur erfolgreiche Expeditionen portraitiert werden, sondern auch das (u.U. lebensrettende) Scheitern vor Tausenden von Zuschauern thematisiert wird. Und dass die Zweiergruppe sich nicht Alex Honnold als Vorbild genommen hat, sondern den Klettersteig abgebrochen hat.

Und so sehr wir an diesem Schneenachmittag bei jedem Schritt vom Apfelstrudel auf der Hütte geträumt haben – er hat auch zwei Tage später, nach drei Stunden schneefreien Aufstiegs von der anderen Seite, fantastisch geschmeckt!

1 Comment

  1. Ich teile unbedingt das Urteil, dass extrem vor allem eins ist: subjektiv. Natürlich gibt es ein absolutes oder objektives Extrem, das sportliche höher – weiter – schneller. Und damit gefährlicher. Das war die beschriebene TOur auch schon. Extrem am Berg ist auch nicht unbedingt eine getroffene Wahl, sondern das, was das Wetter und der Berg anbieten! Da kann die normalste Wanderung schnell ein gefährlicher Extremweg werden. Der gewöhnlichste Weg im Nebel verschwinden, Hagelschauer und Schneesturm aus dem Nirgendwo mit einem spielen. Das reicht mir dann aber schon an Extrem! Da muß ich nicht absichtlich die Gefahr suchen.

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